Der Grand Prix von Bern, unter Insidern schlicht "der GP" genannt, ist herangerückt.
Wir holen unsere Startunterlagen am Vortag ab, denn am Samstag ist dank 32.000 Startern in allen Läufen (17.500 beim Hauptlauf) mit großem Gedränge zu rechnen. Das markante Riesenrad der Messe BEA markiert deutlich das Start- und Zielgelände. Ich könnte schwören, dass die Kabinen auch sonst als Seilbahnkabinen nutzbar sind...
Unser Lauf startet Samstag am späten Nachmittag. Doch ich beginne schon am Morgen, meine Sachen durchzugehen. Auf der Rückseite der Startnummer ist nochmals erläutert, wie man den Chip am Schuh befestigen soll. Brauche ich nicht, denn ich habe ja einen eigenen Chip mit Fußband, meinen Chip, den ich sonst immer ausführe, sonst - ABER NICHT DIESMAL! Denn wie ich erschreckt merke, liegt der gut daheim im Schrank, 650 km nördlich! Schock am Morgen, auf ins Auto und erneut nach Bern. Erfreulicherweise wird mir sofort mit einem Leihchip geholfen, der sogar weder Leihgebühr noch Pfand kostet! So können wir in unserer FeWo nochmals einige ruhige Stunden mit Bergblick verbringen, bevor wir uns dann per Bahn auf ins Epizentrum des GP machen.
Man merkt hier die langjährige Organisationserfahrung. Es stehen 3 riesige Oktoberfesttaugliche Zelte mit Bänken für die Sportler/innen als Umkleide bereit. Seine Sachen kann man hier einfach stehenlassen, nur wenige Meter neben dem Start. Es gäbe auch ein Wert
papiersachendepot, wenn man Zeit und Lust hat, lange anzustehen. Beim Umziehen darf ich einer herzhaften Schimpftirade einer Teilnehmerin zuhören, die wohl gerade als Walkerin den Altstadtlauf mitmachte und sich von den Stöcken einer Deutschen behindert fühlte, typisch deutsch sei das gewesen, echauffiert sie sich. Ja, wir sind nicht durchgängig gut angesehen hier...
Wenig später stehe ich an einer WC-Anlage Schlange (ca. 30-40 Minuten). Plötzlich schießt eine Schweizerin von hinten nach vorn, begleitet vom Ruf, sie müsse dringend aufs WC. Ja super, das wollen hier alle! Kurz überlege ich, wie wohl die Reaktion ausgefallen wäre, hätte dies eine Deutsche gewagt...
Egal, ansonsten werden später aber auch von der Speakerin freundlich beim Startprozedere auch Gäste aus dem nördlichen Nachbarland namentlich begrüßt.
Das riesige Starterfeld sammelt sich unter dem kühlenden Schatten einer schönen alten Baumallee.
Und Kühlung ist notwendig. Noch als wir ankamen, war der Himmel voll bedeckt und wir bekamen sogar einige erste Regentropfen ab. Ich war froh, dass ich ein normales Laufshirt angezogen hatte und nicht das zur Wahl stehende ziemlich schulterfreie Hochsommertop. Doch diese Einschätzung sollte sich ändern. Denn während ich im Startblock warte, reißt der Himmel auf und gibt der Sonne freies Strahlen auf die schweizerische Hauptstadt frei. Wenigstens trage ich Shorts und nicht wie viele um mich, 3/4-Tights.
Das Prozedere läuft ab mit der Präzision eines schweizer Uhrwerks. Die Starter sind in 30 Blocks hinter den Topläufern aufgeteilt. Die Frauen-Elite startet 15:53:27 (!), die der Männer 16:00 Uhr. Mein Block hat als Startzeit 16:44, Check-in ab 16:24 Uhr.
Wie in Wien haben auch hier American Footballer die ehrenhafte Aufgabe eines lebenden Startbands zu erfüllen. Das bedeutet in der Bern-Variante, 30x Kette bilden und lossprinten...
Noch 38 Sekunden bis zum Start meines Blocks. Ja was wird mir dieser Lauf bringen? Einserseits habe ich inzwischen meine Eisendepots wieder ein wenig, wenn auch lange nicht ausreichend füllen können. Andererseits muss ich noch meine Magenmedikamente einnehmen, die sich mit Nebenwirkungen bemerkbar machen. Also nehme ich mir vor, wie in
Wien mit Blick auf den Puls und reduziert zu laufen, um gut durchzukommen.
Dieser Vorsatz hält nur wenige Minuten. Beim Startschuss stürmt natürlich alles los, es macht ja auch Spaß, endlich in Bewegung zu kommen. Und dann lauert bereits der Aargauerstalden, eine zuerst abwärts zu nehmende Rampe, die nochmals automatisch das Tempo forciert, denn man kann die Beine fliegen lassen. Ruckzuck ist mein Puls über 160!
Oder hängt das mit dem Anblick der Spitze zusammen, die hier heraufgestürmt kommt? Die Elite hat dort bereits km 15 erreicht und ist quasi im Zielendspurt, während sich mein Block just bei km 1 bewegt. Letztes Jahr durfte ich an gleicher Stelle Haile Gebrselassie bewundern.
In Bern hofft man 2014 auf einen Sieg des Lokalmatadoren Viktor Röthlin, der seinen letzten GP bestreiten will. Doch wie ich aus den Lautsprechern höre, liegt er leider nicht vorn und wird nachher Siebter.
Am unteren Ende des Stalden biegt das Feld beim Bärengraben ab Richtung Altstadt. Es bieten sich, so wie ich finde, nun einige der schönsten Perspektiven des Laufs!
Alles arbeitet sich die Gerechtigkeits- und dann die Kramgasse hinauf, wo uns bereits zahlreiche schnellere Läufer entgegenkommen und der Spitze folgen. Ein Fahnenmeer, Livemusik, die bunten Sonnenschirme, der blaue Himmel, viel Publikum - das ist der GP!
Ein unvergleichliches Gefühl!
Kurz darauf biegen wir rechts ab und es geht hinunter Richtung Aare. Doch vorher haben wir genug Gelegenheit, die Wärme, die sich zwischen den Mauern schon gestaut hat, zu spüren. Für uns Läufer ergibt dies durchaus ein "hitziges" Gefühl. Ich merke, dass dieser GP kein leichter wird.
Plötzlich hinter mir ein hässliches Geräusch: Ein älterer Teilnehmer ist sehr heftig gestürzt, sofort eilen Passanten hinzu und helfen ihm.
Das letzte Stück führt weiter auf Kopfsteinpflaster recht steil abwärts ins Mattenquartier und an die Aare.
Darauf, dass dieses kleine Viertel seinen eigenen Dialekt hat, spielt dieses km-Schild an: "Kannst Du Matten-Englisch?" lautet die Frage. Nein, kann ich nicht. Laufe aber dennoch weiter. Auch hier gibts Live-Musik der rockigeren Art. Passend zum Kneipenpublikum. Aber auch vom Band (oder wie sagt man heutzutage dazu?) wird intoniert: "Hot Legs" röhrt Rod Stewart. Ja, nicht nur die Beine sind heiß...
Bei diesem Lauf ist Streckenkenntnis von Vorteil. So weiß ich, dass die erste Verpflegungsstelle nicht mehr allzu weit ist.
In diesem Jahr werden die bereitgestellten Wassercontainer für die Schwämme begehrlich angenommen und der Dusche aus dem Feuerwehrschlauch will sich niemand entziehen.
Auch ich nehme mir dankbar ein Wasser.
Es folgt ein etwas ruhigeres Teilstück mit weniger Zuschauern. Bei km 5 stoßen wir ans
Marzili, das wunderschöne alte Freibad der Berner, direkt an der Aare gelegen. Ach, dort hinein müsste man nun gehen können und sich erfrischen. Der Lauf vermittelt langsam das Gefühl einer Hitzeschlacht, während das Publikum wahrscheinlich nur angenehme Frühlingstemperaturen empfindet. Es ist ein ziemliches Geschnaufe um mich herum, ich leiste auch meinen Beitrag. Vom Straßenrand erklingt "The Final Countdown". Nun, falls damit das Ziel gemeint ist, das dauert noch. Vorher geht es nochmals am gegenüber liegenden Aareufer entlang. Wir gelangen zum Tierpark und zum "Dählhölzli". Dort folgt nochmals eine Wasserstation. Ich nehme einige Schluck Wasser und einen 2. Becher kippe ich mir über Kopf und Nacken, wie gut das tut! Denn nun kommt die erste richtige Herausforderung. Was sich so putzig anhört ist ein großes Waldgelände in der Stadt, das allerdings mit einer längeren Steigung aufwartet. Dass genau dort eine Ambulanz mit Blaulicht steht, steigert nicht gerade die Motivation. Aber die kühle Erfrischung am Wasserstand und nun der schattige Wald tun gut und der Puls sinkt kurz spürbar.
Ich erlaube mir an den steilsten Passagen einige Gehschritte, denn ich merke, der Magen zetert und meutert. Wenigstens trägt das klatschnasse Shirt gut zu einer fortgesetzten Kühlung bei. Auch viele andere haben ihren Kampf auszufechten.
An einer Stelle stehen ein Akkordeonspieler und ein Gitarrist, aber sie machen gerade Pause.
Dafür darf ich ein schönes Konzert eines Drehorgelspielers wenigstens kurzzeitig hören.
Er hat viel Spaß und winkt mir munter zu.
Ja, in Bern wird man nicht nur durch km-Zahlen, sondern auch verbal orientiert. Hier darüber, dass ja schon mehr als die Hälfte vorbei sei.
Das tut gut. Aber dafür liegt nun der schattige Wald hinter mir und es geht vom Thunplatz aus durch ein Wohngebiet. Zunächst schön abwärts und mit Gegenwind, aber dafür wieder in der prallen Sonne.
Hier, wie auch an vielen weiteren Punkten gibt es Privatwasserinitiativen, mitfühlende Bewohner, die ihre Gartenschläuche ausrollen und Kühlung spenden.
DANKE!
Bei der nächsten Wasserstation schreit die Kehle nach Flüssigkeit, doch der Magen macht dicht, völlig dicht. Ich versuche ein Iso, aber das hätte mir vorher klar sein müssen, dass dieses süße Getränk da auch nichts nützt. Ab hier laufe ich nicht mehr mit, sondern eher gegen meinen Magen.
Es geht zum 3. Mal über die Aare, in ein anderes Wohnviertel. Ich versuche, mich vom langsam quälenden Magendrücken abzulenken. Doch irgendwie ist es elend schwer. Am Straßenrand sehe ich, wie ein junger Mann wie ein nasser Sack in den Armen eines Sanitäters hängt, dann geben seine Beine nach und man kann ihn nur noch geordnet zu Boden gleiten lassen. Überhaupt haben die Sanitäter Stress. Wiederholt beobachte ich, wie sie auffällige Läufer ansprechen, fragen, ob es ihnen gut ginge oder sie Hilfe benötigen.
Ja, Humor haben sie hier...
"Bist Du müde?"
Ja und wieeeee,
aber kneifen ist nicht.
Kneifen tut nur mein Magen, bzw. krampfen. Es zieht sich bis in die Schulter hinein. Ich weiß zwar nicht, wie das biologisch geht, ist aber so. Jedenfalls läuft es sich so alles andere als entspannt.
Zumal ich weiß, dass gleich der zähe Anstieg hinauf zum Bundeshaus kommen wird...
Ja, nach Amerika gehts hier sogar wirklich rechts, jedenfalls zur amerikanischen Botschaft.
Kurz danach überhole ich einen gestylten Läufer. Der telefoniert gerade.
"Jo, am Bundeshuus bin ig. Am BUN-DES-HUUUUUS!"
Zu den lauten Glockenklängen des Berner Münsters ...
.... nähere ich mich der blauen Matte. Das ist noch lange nicht das Ziel, nur ein kleines Streckenhighlight, rechts das Bundeshaus, geradeaus die Nationalbank.
Tja, leichter geschrieben als getan. Noch vor 4 Wochen beim Marathon in Wien fühlte ich mich 3 km vor dem Ziel prima, freudig und legte noch ein wenig zu. Und das mit 39 km in den Beinen.
Hier hingegen, nach läppischen 13 km fühle ich mich übel, elend, schlapp.
Aber die 3 km packe ich noch. "Gring abe u seckle", wie es beim GP so schön heißt (Kopf runter und rennen).
Auch die anderen haben zu kämpfen. Die Schritte werden müde und schwer. War man gerade in leichtem Abwärtslauf, so schwenkt die Strecke nochmals scharf links und erneut gehts kurz aufwärts.
Dann die 2. Passage über Kram- und Gerechtigkeitsgasse, diesmal abwärts.
Links und rechts sitzen an den Tischen der Lokale die Zuschauer und genießen Speisen und Getränke.
Aber man darf sich nicht täuschen lassen, gleich kommts.
Das Grauen hat einen Namen: "Aargauerstalden", den nun wir, wie ja vorhin erst die Spitze, hinaufhetzen müssen...
Die Post zeigt ebenfalls ihren Sinn für Humor...
zäh gehts,
hart ist es.
Immer noch harren die Zuschauer aus, um die müde Schar anzufeuern.
Oben heißt es im Schwenk rechts. Eine schöne
Guggenmusik gibt am Rosengarten auch alles und schmettert was das Zeug hält. Ich kann deren Namen erkennen "Ton-Schiisser" nennen sie sich. Gespielt wird "Über den Wolken". Ja, dieses Feeling kann ich gerade so gar nicht nachvollziehen. Statt schwebend leicht und locker fühle ich mich unterirdisch wie ein Bergmann im Stollen. Und selbst die Aussicht, nun auf dem letzten km zu sein, kann mich zu nichts mehr motivieren. Ich knarze als rostiger Roboter dem Ziel entgegen, dabei habe ich doch nicht zuviel, sondern zu wenig Eisen...
Endlich kommt das Ziel in den Blick. Die Zuschauer schreien sich hier immer noch die Kehlen heiser, obwohl die Elite seit fast einer Stunde durch ist.
Endlich habe ich es geschafft. Ich bin fix und fertig, mir geht es nicht gut und muss erstmal Kräfte sammeln um zum Zielausgang zu gelangen. Bananen gibts auch keine mehr.
Die Schlacht ist geschlagen, aber so schimmernd wie die Montur des Plakathelden ist die meinige nicht, diesmal nicht. Was in Wien so locker und leicht lief, war hier ein ziemlicher Kampf.
Wäre dies mein allererster Lauf gewesen, ich weiß nicht, ob ich jemals wieder die Schuhe geschnürt hätte. Nun gut, ein Teil hängt mit meinen derzeitigen Unpässlichkeiten zusammen, ein Teil ist der Hitze geschuldet (auch mein Mann ist eher unzufrieden heute), ist also erklärbar. Aber schöner macht es das nicht.
Wenigstens gibts für die Finisher noch eine verbale Aufmunterung (und einen kleinen Berndeutschsprachkurs):
Der Vollständigkeit halber möchte ich noch erwähnen, dass nach dem Lauf der Himmel wieder zuzieht und wir am Bahnhof Wankdorf wieder nur eine trübe Wolkendecke über uns haben...
Einen schönen Bericht vom GP mit vielen touristischen und historischen Hinweisen hat
Marianne in ihrem Blog.
Und hier gibt es einen Video-Rückblick:
GP-Video 2014
16,093 km, 1:42:25,6 (Jawoll, Zehntelsekunden werden gemessen!), (6:14 Min/km), Puls 157.
AK: 274. von 391
Frauen: 3448. von 4537