Um Lauffreund Nile an der Strecke anfeuern zu können und überhaupt eine solche Veranstaltung aus der Nähe zu erleben, nehmen wir 4 Stunden Autofahrt und 43 EUR Maut (PKW-Tarif) für den 11 km langen Tunnel unter dem Mont-Blanc gerne auf uns.
Am Kleinen St. Bernhard (2.188 Meter Höhe) wollen wir uns treffen, den wir im Morgendunst erreichen.
Es starteten 1.818 Teilnehmer um 6 Uhr zum TDS. Sie haben für das Wagnis Zeit bis zum Folgetag um 15 Uhr, also 33 Stunden.
Wir suchen uns einen Platz oberhalb des Lago Verney. Irgendwo dort unten werden die Läufer auftauchen. Wir schnappen Gesprächsfetzen auf, dass die Führenden in wenigen Minuten zu erwarten sind.
Wir befinden uns an Streckenkilometer 35,9 und die Ankommenden haben zudem schon 2.500 Höhenmeter in den Beinen. Nach knapp unter 4 Stunden kommt der erste Läufer.
Ich greife kurz vor: Er wird die Führung über die nächsten 82 km nicht mehr abgeben und nach 14:33 Std. das Rennen rechtzeitig zum Abendessen beenden... Aber so locker, wie der hier oben ankam, ist das fast kein Wunder.
Wir haben Glück mit dem Wetter und es klart auf, so dass wir das phantastische Panorama bewundern können.
Dort unten hinten am See tauchen die Läufer als winzige bunte Punkte im Grün der Alpweiden auf und bewegen sich entlang des linken Seeufers...
... bevor sie den Anstieg zum letzten Stück auf die Passhöhe auf schmalen Pfaden nehmen müssen.
Nach den drei Führenden kommen zunächst nur einzelne Läufer.
Ein großer Unterschied zu Flachlandläufen. Ein richtiges "Hauptfeld" gibt es nicht. Nur die Frequenz auf der "Ameisenstraße" nimmt etwas zu.
Zunehmend kommen dann Läufer in Gruppen an. Jedoch lässt das Gelände nur "Entengang" zu.
Eine größere Gruppe Schaulustiger, Freunde und Familien von Teilnehmern hat sich hier oben versammelt. Jeder wird mit Applaus und teils Glockentönen empfangen.
In den Gesichtern kann man lesen wie in Büchern...
Da sind die, die sich einfach freuen, den Pass erreicht zu haben und das mit einem Strahlen zeigen.
Da sind die, aus deren Augen die stille oder gequälte Dankbarkeit spricht, die Anstrengung diesen Anstiegs nun absolviert zu haben.
Manche müssen sich schon schwer auf ihre Stöcke stützen, um den letzten Rest hier hinauf zu schaffen.
Viele sind gezeichnet von dem bisher Geleisteten.
Fast alle gehen, doch manche legen aus Freude über den tollen Empfang hier oben ein paar Laufschritte ein.
Ein Franzose hält begeistert eine Ansprache ans Publikum. Da die Zuschauer ja die Läufer dank der Vornamen auf ihren Laufnummern mit Namen ansprechen können, gibt der Franzose zurück: "Hey, ich kenne Euch alle! Marie, schön, dass Du da bist! Jean, schön Dich zu sehen! Francois (gemeint ist mein Mann) Du bist auch da!" usw. Woher der noch die Energie für so etwas nimmt.... und munter trabt er weiter.
Ich erinnere mich an einen Amerikaner, der mit Strohhut, Karohemd und Wanderbermudas vor sich hin trottet. Und überhaupt, die Nationen! Jeder hat seine Landesflagge klein auf der Startnummer. Wir erkennen natürlich viele Franzosen und Italiener. Bemerkenswert viele Spanier, Portugiesen, Chinesen, Japaner, Briten. Deutsche, Schweizer und Österreicher erstaunlich wenig. Aber welche Fahnensymbole man nicht alle sieht: Estland, Litauen, Slowakei, Tschechien, Russland, Israel, Südafrika, Brasilien, Venezuela, Türkei, Neuseeland, und und und. Leider hatte ich keinen Notizblock dabei. Sogar einen Nepalesen sahen wir!
Sie alle möchten wir am liebsten mit unserem Anfeuern wieder mit frischer Energie betanken - wenn das so leicht wäre.
Und so freuen wir uns über jedes kleine Lächeln, dass wir einem Teilnehmer ins Gesicht zaubern können. Das baut sie hoffentlich ein wenig auf. Mancher sagt oder murmelt ein "Merci" oder gibt einen kleinen Applaus zurück. Vor allem einige Japaner und Chinesen deuten sogar eine Verbeugung an.
Manche sind so in sich versunken, dass sie kaum wahrnehmen, was um sie herum geschieht.
Wir sind voller Hochachtung für die Leistung, die sie alle bis hierher gebracht haben und voller Respekt, für das, was sie noch vor sich haben! Bei einigen machen wir uns allerdings schon jetzt Sorgen...
Unser Freund Nile hatte uns schon von unterwegs gesmst, dass er an unserer Position aussteigen wird, er hat Probleme mit der Nackenmuskulatur, die ihm Abwärtslaufen kaum ermöglicht.
Nachdem wir 3,5 Stunden fleißigst geklatscht haben, bis die Hände rot sind (was mir allerdings deutlich kürzer vorkam), kommt er an.
Wir genehmigen uns ein kühles Erfrischungsgetränk, bevor er zu seinem Shuttlebus geht. Auch wenn ein solcher Abbruch sicher nicht das Ziel seiner Teilnahme war, so hat er unsere Bewunderung für diese Leistung verdient. Und ist zudem in guter Gesellschaft. Rund ein Drittel der Teilnehmer wird nicht das Ziel erreichen.
Wir werfen noch einen Blick ins Verpflegungszelt, das auf dem Weg zum Auto liegt. Und können immer noch kaum fassen, was die Läufer hier auf sich nehmen. Dagegen ist ja ein Marathon ein Kindergeburtstag!
Und wenn wir am nächsten Morgen nach gutem Schlaf aufstehen, laufen viele immer noch.
Und wenn wir Mittagessen haben, sind immer noch welche auf der Strecke...
Unvorstellbar!
Mit solchen Eindrücken und Gedanken nutzen wir die Rückfahrt über den Großen St. Bernhard (mautfrei) noch zu einem Zwischenstopp.
Ich will doch mal die Originale sehen.
Und die sind da oben!
Wahrhaftig hält eine Stiftung auf der Passhöhe etwa ein Dutzend ihrer Prachtexemplare.
Doch im Museum sieht man, wie ursprünglich die Ur-Bernhardiner aussahen. Der ausgestopfte "Barry III" hat noch deutlich andere, und für unseren Geschmack hundgerechtere Gesichtszüge.
Und wir erfahren (leider), dass es die Sache mit dem Fässchen um den Hals in Wahrheit gar nicht gab. Wohl haben die Hunde tatsächlich bei der Rettung von Menschen geholfen.
Blick vom Pass Richtung Schweiz.
Während wir gemütlich im Auto gen daheim rollen, laufen andere in die Nacht hinein...