Welch ein Tag!
Früh am Morgen machen sich gut 41.000 Lemminge auf zum Start des Wien Marathons. Wir haben Glück und ergattern noch Sitzplätze in der U-Bahn, doch schon eine Station weiter wird es sehr eng. Dabei haben die Bahnen bereits auf einen 3-Minuten-Takt aufgestockt, doch der Menschenstrom zum Startgelände schwillt immer weiter an. In Wien starten Halb- und Vollmarathon im gemischten Starterfeld, eine Menschenmenge, die nicht mehr zu überblicken ist.
Meine Gefühle sind sehr durchwachsen. Was wird mir der Tag bringen im Wissen, dass ich ein kleines "
Handicap" bei mir habe? Am Ende des Tages kann ich es kaum glauben, dass ich doch noch ein schönes Marathonerlebnis haben werde. Muss aber dennoch sagen, dass ich ziemlich sicher bin, dass ein Lauf auf die ursprünglich geplante Zielzeit hin wohl nicht gut geendet hätte.
So stehen wir im Startbereich und schauen den Leuten zu. Wir wissen, dass aus unserem Ort auch unser Laufbekannter W. dabei ist, und schon spaziert er an uns vorbei, was für ein Zufall. Wir rufen ihn zu uns und verbringen die Wartezeit gemeinsam. Er ist im gleichen Block wie mein eidgenössischer Ehemann, und bald ziehen die beiden zusammen los, um sich dort einzureihen.
Ich erfreue mich an der speziellen Musik. Wahrhaftig ist alles Walzer. Ich erkenne Smetanas Moldau, "Oh Fortuna" aus Carmina Burana und immer wieder klassische Walzermelodien. Das höchste an modernen Gefühlen sind Enya oder Michael Jacksons "Earth Song". So werde zumindest ich in meinem Plan, langsam zu laufen, bestens unterstützt.
Es wird versetzt in 6 Blocks gestartet, und ich kann das Prozedere beim parallel von mir stehenden Block beobachten: Eine Kette (Schaumstoff-)muskelbepackter Football-Hünen bildet eine verhakte Menschenkette vor den mit den Hufen scharrenden Läufern. Auf Kommando sprinten die Jungs los was das Zeug hält und bringen sich dann schleunigst nach wenigen Metern links und rechts in Sicherheit vor der wilden Horde (Man weiss ja, dass bekanntlich Langstreckenläufe am Startsprint gewonnen werden...).
Das Spektakel lassen sich viele Zuschauer nicht entgehen.
Los gehts Richtung Praterstern. Es ist und bleibt kühl und ich bin sehr froh um meine lange Hose, die Ärmlinge und die Handschuhe - bis zum Laufende.
Wie üblich ist es zunächst etwas hektisch, aber es ist genug Platz für alle da, zumindest in meinem Block.
So gehts über die erste Brücke, theoretisch Richtung Zentrum, praktisch natürlich auf zahlreichen Schleifen durch die Donaumetropole. Um mich herum wird fleissig geplaudert, teils in mir unverständlichem Österreichisch, aber auch einige andere Sprachen sind zu vernehmen.
Nach 5-6 km habe ich mich halbwegs eingelaufen, muss wie immer dauernd mein Tempo reduzieren.
Bei etwa km 9 fallen mir diese beiden bunt maskierten Gestalten auf, man beachte deren Barfüsse! Sie scherzen mit vielen anderen Läufern, verabschieden sich aber bald aus dem Feld. Nach 2 km sehe ich sie wieder: Auf dem Balkon einer Wohnung gegenüber des Naschmarkts, von wo aus sie allen zuprosten. Viel später tauchen sie wieder im Läuferfeld auf...
Kurz begegnen wir hier auch der Spitze, die dort schon bei km 26,5 angelangt ist.
Und dann der erste Vorgeschmack auf die spätere Zielnähe, der Ring. Hier gibt es endlich wieder einmal Walzer zu hören. Und dazu einen Walzermarathon...
... der einen Läufer zu einer spontanen Einlage hinreisst.
Und wir passieren beim Karlsplatz die Oper, ein schöner Anblick.
Beim Naschmarkt bewegt sich das Feld bereits in Richtung Schönbrunn. Als wir vor wenigen Jahren einmal per Bahn aus der City dorthin fuhren, kam es mir sehr weit vor. Heute scheints eher kurz, obwohl ich einen kleinen Hänger habe, Gegenwind und Nieselregen kommen noch hinzu.
Zudem war der Kampf mit dem ersten Energie-Gel tückisch. Es liess sich kaum öffnen und ich konnte den Inhalt nur durch ein winziges Loch mit aller Kraft herausdrücken (Das Spiel wiederholt sich noch 2x, muss ich noch ein Schweizermesser mitnehmen, um die Dinger unterwegs öffnen zu können...?). Am Ende habe ich eine nervend klebrige Hand. Doch erfreulicherweise gibt es öfter an der Strecke fliessend Wasser für die Läufer, dort kann ich das Malheur ausgleichen.
Bald kommen wir in Schönbrunn an, es ist zugleich (nach 16 km) der erste Staffelwechselpunkt. Da spazieren quer durchs Läuferfeld ein Herr und eine Dame im Laufdress. Ich schaue kurz hin - muss nochmal schauen - ist das nicht Magister K. mit dessen Firma unser Haus geschäftliche Kontakte pflegt? Noch ein unglaublicher Zufall! Er wars, wie ich am Abend der Ergebnisliste entnehmen kann, er war der erste Läufer einer Firmenstaffel.
Schönbrunn ist der westliche Wendepunkt. Dass es bis hierhin nach Streckenprofil bergauf gegangen sein soll, habe ich kaum gespürt. Nun geht es über die Mariahilfer Strasse zurück zur City.
Hier läuft es gut für mich, immer noch muss und will ich mich einbremsen. Bald steht auch die Entscheidung an, den Lauf als Halbmarathon zu beenden ... oder weiter zu laufen.
Da hilft mir die Skulptur zweier Männer mit Hammer (!) auch nicht gerade weiter...
Kurz darauf folgt gegenüber eine hübsche Kirche und ich denke, ich sollte den Glauben für heute vielleicht doch nicht aufgeben...?
Das Feld wird plötzlich schneller, es sind nur noch 2 km bis zum Halbmarathonziel und es geht bergab. Ich lasse mich ein wenig mitreissen und laufe hier meinen schnellsten Abschnitt.
Und dann kommt die zur Entscheidung zwingende Stelle: Rechts = Halbmarathonziel,
links = weiter.
Ich fühle mich gut und laufe links.
Vom Zielgelände, dem Heldenplatz, klingt Robbie Williams herüber "I don't want to die, and I ain't keen on living eather" ... nein, "sterben" will ich bei diesem Lauf sicher nicht, aber ich will ihn beenden!
Das Feld wird nach der Scheitelstelle merklich dünner, es laufen nur rd. 9.500 Läufer die Volldistanz. Und nach dem Ostermarkt mit Budenzauber beim Rathaus wird es plötzlich ganz still und ruhig. Keine Musik mehr, nur Schuhtrappeln und hier und da Schnaufer.
Ich fühle mich weiter gut und freue mich, für diese Variante entschieden zu haben.
Ich finde überhaupt, dass die 20'er km schneller vergehen, als die Halbdistanz. Das findet allerdings Mozart nicht, er schnauft und kämpft.
Zu meiner Überraschung wollen die Beine immer noch gut voran. Doch ich merke, dass der Puls, den ich unbedingt im Griff behalten möchte, öfter einmal die 150 überschreitet. So ist weiter bremsen angesagt.
Bald geht es erneut auf die Hauptallee, die uns durch ein langes sehr grünes Waldstück führt.
Man kann seinen Gedanken nachhängen, es gibt viel Platz für alle. Musikalisch wird an dieser Stelle gerade "I will survive" geboten - ja das gefällt mir!
Die Hauptalle zieht sich, es gibt einen Abstecher zum Fussballstadion mit einer unschönen Spitzkehre, die einem den Schwung raubt - und das bei km 30,5. Hier habe ich nun doch langsam ein wenig zu tun. Die Beine laufen zwar brav, aber ich merke, die "Körner" wollen eingeteilt werden, der Puls drängt auch immer höher. Die Passage im Grünen nimmt kein Ende.
Endlich kommt der Pavillon in Sicht, der den süd-östlichen Wendepunkt des Kurses markiert und den man gut umrunden kann.
Zugleich wird die Reststrecke nun einstellig! Weniger als 10 km und ich laufe immer noch ...!
Nach letztendlich fast 9 km durch den grünen Wald kommen wir endlich wieder an den Fluss.
Diese Kneipe möchte ich ausdrücklich wegen ihres guten Musikgeschmacks hier verewigen. Beim ersten Passieren dieser Stelle erklang Nazareth's "This Flight Tonight", wow, da wird man wieder jung.
Bei der zweiten Passage höre ich Kirchenglocken, bin erstaunt, denn Mittag ist vorbei. Doch dann fällt der Groschen.... "Hells Bells", ach, hier wäre ich gern stehen geblieben, aber nichts da, weiter, keine 6 km mehr, nicht zur Hölle, sondern zum Ziel!
Das Feld zieht sich auseinander. Inzwischen schnaufe ich auch ganz gut. Und dann geschieht mir noch, dass eine Fliege sich in meinen Mund verirrt. Spucken und trocken würgen nützt nichts. Ich habe Gottseidank eine kleine Reservetrinkflasche dabei. Mit etwas Wasser werde ich den unliebsamen Störenfried dann los.
Km 39. Ich schaue nur auf den Puls, es wird schwierig. Doch ich bemerke auch, dass mein Tempo immer noch gut ist. Die Gesamtzeit habe ich bewusst ausgeblendet, und als ich hier einen Blick darauf werfe sehe ich, dass ich wahrhaftig in die Nähe meiner allerersten Marathonzeit (4:44 h) gelangen kann. Ich gestehe, ich habe einen Kloss im Hals... Ich hatte mich hier jenseits der 5 Std gesehen...
Ich beschliesse den Versuch, das Tempo noch anzuziehen.
Die Füsse gehen mit.
Km 40. Ich glaube es nicht! Gleich wird die Strecke nach rechts und dann erneut auf den Ring mit seinen bunten Läuferbögen und dem jubelnden Publikum einschwenken.
Nochmals dürfen wir den Prachtboulevard geniessen.
Ich erlaube mir ein paar Gehschritte, einfach, weil ich diese Eindrücke länger in mich aufnehmen, ja aufsaugen möchte.
Ich werde es gleich schaffen, diesen Lauf zu finishen...
Wieder will ich loslaufen und zum Ende alles geben. Doch da kommt die Warnung des Körpers, es reicht, kein Tempo mehr möglich, sonst komme ich doch nicht mehr heil an. Ich erkenne die Zeichen, wie sie bei mir sind, kurz bevor das Lichtlein ausgeht. Nein, nicht hier und jetzt. Die letzten 500m werden mit 100m-Schildern angezeigt, das hilft.
Ich drossele und geniesse den Zieleinlauf, bewusst langsam. Unvergesslich emotional.
Der blaue Teppich vor der Hofburg. Auf diesen Moment habe ich mich so gefreut, so lange hintrainiert, am Ende noch Sorgen gehabt und der Traum ist doch wahr geworden.
Mit den letzten "Funken" meiner Batterie laufe ich über die Linie. Als ich stehenbleiben kann, spüre ich sofort, wie sehr ich doch das letzte aus mir herausgeholt habe. In diesem Moment bin ich mir daher auch sicher, dass ein Lauf mit dem ursprünglichen Ziel ( 4:20 h) mich nicht zu selbigem gebracht hätte, und bin froh, dass ich eben vorher einen "Warnschuss" erhielt. Dank diesem hat es geklappt. Und ich habe sogar eine neue PB mit 4:40:26 erzielt!
Doch die zahle ich mit totaler Erschöpfung. Stakse auf dem grossen Gelände herum auf der Suche nach dem Ausgang. Jeder einzelne Schritt kostet Kraft und Konzentration. Wie gut, dass das Hotel nur 500 m entfernt ist. Ich gehe wackelig wie der berühmte Storch im Salat den Ring entlang ein Stück zurück. Ein Kino zollt hier den Läufern seinen Tribut:

Mein Mann ist wie erwartet schon fertig, in 3:50, und damit sehr zufrieden. Vom Laufbekannten W. gibt es weniger gutes zu vermelden. Die beiden Männer starteten gemeinsam und liefen gemeinsam ins Ziel. Dazwischen aber fiel W. einmal weit zurück, lief dann plötzlich weiter vorne wieder im Feld. In der Ergebnisliste wird er als disqualifiziert geführt, er hat unterwegs einen seltsamen Leistungsschub gehabt, das Tempo fast wie ein Usain Bolt... An einer Stelle, an der sich die Strecke berührt und man einfach ein paar km abkürzen kann... Als wir das später lesen, sind wir doch ziemlich entsetzt darüber. Was hat man davon? Man betrügt sich selber und die Untat bleibt auf ewig im Netz für alle sichtbar...
Ich bin froh, im Hotel anzukommen, nach einem entspannenden Wannenbad erleide ich die erwarteten und mir bekannten Qualen, die Beine hämmern und fühlen sich an wie Beton, die Fusssohlen drohen Krämpfe an, der Magen will Nahrung und lehnt sie zugleich ab, ich fühle mich wie durch ein Räderwerk gedreht. Mein flinkerer Gatte hingegegen springt munter im Hotelzimmer umher, relativ betrachtet jedenfalls. Nun ja, wenn ich denmächst mehr Eisen habe, kann er sich schonmal warmlaufen ... :-)
Fazit: Wien ist ein schöner Lauf, tolle Stimmung an vielen Punkten der Strecke. Gute Organisation, aber ein wenig sparsam ist man hier schon, es gibt nicht das kleinste Goodie, nur Werbeflyer und Gutscheine (für den nächsten Möbelkauf zum Beispiel) finden sich im "Sackerl".
Nachtrag: Bewegte Bilder gibt es hier in der ORF-Reportage. Mozart ist zu sehen, die beiden Barfussläufer, ja und sogar ich habe die Ehre und tripple bei 2:39 Min ins Bild und an dem tanzenden Walzerpaar vorbei ;-)