Das Jahreshighlight, der Berlin-Marathon, steht an. Die Bahn bringt uns mit nur 20 Minuten Verspätung in die Hauptstadt, die doch immer wieder einen krassen Kontrast zu unserem "Landleben" im Kölner Ballungsgebiet darstellt. Diesen brodelnden urbanen Dschungel zu erleben, empfinde ich als reizvoll und ein wenig erschreckend zugleich. Ich komme immer wieder gern her, und fahre nach ein paar Tagen gern wieder nach Hause.
Am nächsten Morgen, Freitag, holen wir die Startnummern ab. Wenn man 30 Minuten vor Öffnung an den Türen steht, stehen die Chancen sehr gut, rasch seine Nummer in Händen zu halten, und danach die Läufermesse besuchen zu können. Während die Startnummernausgabe dieses Jahr vergrössert wurde, erscheint uns der Expo-Teil kleiner bzw. von einigen Anbietern weniger besucht zu sein. Aber wie immer ist die ganze Stadt mit Werbebotschaften zum Marathon übersäht.
Den Samstag verbringen wir gemächlich. Kurzer Besuch am Brandenburger Tor, das noch nicht ganz von den Farbresten der Klimakleber befreit wurde und gerade von einer Eltern-Kinder-Demo für mehr Bildung belagert wird. Gleich dahinter liegt der Zielbereich des Marathons, an dem die Inliner sich tummeln.
Und dann Beine hochlegen und trinken, Wasser und Limo natürlich. Abends noch Energieaufnahme bei unterhaltsamer privater Pasta-Party bei Volker.
Erstaunlicherweise schlafe ich gut und noch erstaunlicher ist mein Magen gewillt, beim Frühstück ein ganzes Brötchen aufzunehmen. So kommen wir schliesslich bei ca. 12° im Startbereich an. Es ist kurz vor 9, in einer halben Stunden startet die Elite, Chris darf 10.05 Uhr los, ich 10.30 Uhr, Berliner Dimensionen. Bei rund 47.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer (und 31 diversen Finishenden) ist das auch notwendig. Trotz der Menschenmenge geht es gechillt zu. Die Zugangskontrolle ist völlig frei, keine Schlange. Es brummt wie in einem Bienenkorb, ein sehr internationaler bunter Menschenmix, alle sind gut gelaunt, locker, erwartungsfroh. Besonders das ist für mich irgendwie ein Markenzeichen dieses Laufs und fällt mir bei anderen Veranstaltungen nie derart auf.
Wohl jeder erlebt so seine Berliner Gänsehautmomente. Als ich in meinen Startblock (wie immer der letzte ganz hinten) komme, trifft sich mein Blick zufällig mit dem einer jungen Frau, die gerade ein paar Tränchen wegwischt. Wir müssen beide lachen, wissen wir doch genau um das Gefühl, das wir gerade teilen. Und auch wenn ich noch über eine Stunde Wartezeit habe, kommt keine Langeweile auf. Ich liebe es, das Treiben um mich herum aufzunehmen. Zudem gibt es ja Musik und Unterhaltung. Auf Riesen-Bildschirmen sehen wir motivierenden Bilder. Die Eliteläufer werden vorgestellt, Eliud Kipchoge erhält grossen Beifall, will er doch einen erneuten Weltrekordversuch starten. Und man ist in diesem Jahr auch gespannt, ob und was die Klimakleber als Störaktion vorhaben, die sie zuvor angekündigt hatten.
Nach den Starts der vorderen Blöcke beginnt dann auch mein Feld sich nach vorne zu verschieben, was in Berlin fast schon eine kleine Wanderung bedeutet. Und dann geht es eeeendlich los! Mit Feuersalven aus dem Startbogen gen Himmel werden wir auf die Strecke geschickt.
200 oder 300m hinter dem Start wird der linke Teil des Feldes von Ordnern plötzlich auf die rechte Seite geschickt. Orange Farbe, aha, hier war etwas. Wie wir später erfahren, wollten sich einige Aktivisten kurz vor dem Start dort festkleben, wurden aber von Sicherheitskräften daran gehindert.
Und dann nehmen wir Tempo auf, auch der letzte Teil des Lindwurms schlängelt sich durch die Strassen an der Spree, während im Ziel (liegt gleich hinter dem Start, wo wir kurz zuvor noch standen) bereits der Einlauf der Elite bevorsteht.
Bei km 7 passieren wir das Gelände von Reichstag und Bundeskanzleramt seitlich, dort läuft man weitere 35 km später wieder ein, wenn alles klappt. Das Publikumsspalier ist dicht, wohl nicht zuletzt dank des prächtigen Wetters. Inzwischen dürften es knapp unter 20° sein. Es fühlt sich herrlich an, hier und heute zu laufen.
Es folgt der Bezirk Mitte.
Km 11, wir streifen den Alexanderplatz und damit unser Hotel. Aber kein Gedanke an Abbiegen.
Karl-Marx-Allee und Strausberger Platz, sozialistische Architektur lässt grüssen.
Wie immer ist auch an der Strecke die musikalische Untermalung bestens. Da wird alles geboten, von Rock über Pop, Jazz, Swing, Bongotrommeleien, alles was geht. Viele Bands sind sicher angeheuert, aber auch viele kleine private Musikanten und Kneipen tragen ihren Teil bei, und sei es nur durch einen Lautsprecher am Streckenrand. Herrlich!
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Schmissiger Swing der Zwanziger |
Der einsame Alphornspieler gibt sein Bestes. Er scheint aber erst ganz kürzlich mit dem Erlernen des Instruments begonnen zu haben. Doch der Wille zählt!
Ein Wort zu den Getränkeposten. Berlin propagiert Umweltbewusstsein beim Lauf. Erfreut nehme ich zur Kenntnis, dass am allerersten Verpflegungsposten dickwandige dauerverwendbare Kunststoffbecher eingesetzt werden, die man in einer Reihe von Containern dann zurückgeben kann.
Doch schon ab dem nächsten Stand das altbekannt Bild. Immerhin recycelt bzw. recyclebar. Und Befüllen eigener Becher und Flaschen war auch möglich.
Allerdings - das Wasser ist sehr kalt, der erste Schluck schon gefällt dem Magen gar nicht.
Na und der "alte Holzmichel", äh Michel aus Frankreich lebt auch noch!
Ich mache es an dieser Stelle kurz. Schon ab km 16 kamen Probleme auf. Mein oller Magen... erst drückte es, dann zog er sich -gefühlt- zusammen und polterte fortan bei jedem Schritt als Felsbrocken zwischen den Rippen herum.
Tja, und nun? Ich habe ja schon Marathons aus diesem Grund gehend gefinisht, Prag zum Beispiel (
2016,
2017) oder
Weimar. Berlin hingegen war für mich bisher gutes Laufpflaster (
2017,
2018,
2022) und in Monschau war es trotz der Höhenmeter immer ein schönes Lauferlebnis.
Aber dann war da das Extremerlebnis in
Maastricht in diesem Mai, das mir eindrücklich aufgezeigt hat, dass zwar der Kopf beim Marathon wichtig ist, dass er aber durchaus vom Körper die Grenze aufgezeigt bekommen kann.
Meine persönliche Gretchenfrage also: Was will ich hier und heute? Ich wäge die Argumente ab und komme zum Ergebnis, dass ich die Halbdistanz in Würde absolviere und dann bei der nächsten U- oder S-Bahn den Einkehrschwung ansetze. Mein persönlicher Zielbogen ist also diesmal die Station Kleistpark.
Das Verkehrsnetz in Berlin ist für meine Begriffe sehr gut und die Startnummer ist sogar für 3 Tage kostenfreies Ticket. Schnell habe ich mich orientiert, wie ich zurückkomme. Es braucht nur einen Umstieg. Ich bin froh, dass es in den Bahnen und Bahnhöfen recht warm ist, denn nun setzt Schüttelfrost ein. Gottseidank ist der Weg von der letzten Station zum Hotel kurz, den Wind empfinde ich dennoch als unangenehm kalt.
Ein stolzer Finisher mit seiner Medaille kreuzt meinen Weg .... Mist.
Nach einer wunderbar wärmenden Dusche geht es bald wieder besser und ich kann sogar virtuell Zielluft schnuppern, im Hotel bei der Live-Sendung des Lokal-TVs. Etwa zu diesem Zeitpunkt kommt Chris dort an und
Catrina hat bereits mit einer fabelhaften Zeit das Ziel erreicht.
Einige Zeit später betritt dann der erfolgreiche Teil unseres Haushalts das Zimmer, erstaunt, dass er dort nur als Zweiter eintrifft. Die Freude über seine unerwartete 3:56er Zeit steht ihm ins Gesicht geschrieben.
Tja, das war Berlin 2023.
Meine Entscheidung war richtig. Und zu 80% geht es mir damit gut. Die anderen 20% allerdings .... die Stadt ist am Montag geflutet von Marathonis, erkennbar an Shirts, viele auch mit umgehängten Medaillen. Jeder setzt mir einen kleinen Nadelstich, auch wenn ich mich für alle über ihren Erfolg freue.
Hätte, wäre, könnte.
Warum haben die es geschafft? HABEN DIE ETWA ALLE KEINEN MAGEN??!!
Nun denn, es ist wie es ist. Nach dem Lauf ist vor dem Lauf.
Wir geniessen noch die Zeit in Berlin, die Impressionen, das Sightseeing. Wir kommen wieder!
PS: Bei Eliud Kipchoge lief es auch nicht ganz, hüstel, nach Plan. Kein neuer Rekord, aber doch Sieg in stattlichen 2:02.
Dafür neuer Damenweltrekord von Tigst Assefe in 2:11:59!
PPS: Geschrieben auf schweizer PC-Tastatur, daher durchgängig mit "ss" statt dem B mit Kringel unten dran. 😉